Restinga und die Flüchtlinge

Restinga und die Flüchtlinge

Korrekt heißt das Örtchen La Restinga. Es ist ein kleines Hafenstädtchen im südlichsten Eck von El Hierro. Bekannt ist es vor allem unter Tauchern, da man von hier aus die interessantesten Tauchspots der Kanaren besuchen kann. Auch gibt es einen kleinen Yachthafen, aber der ist zur Zeit weitgehend stillgelegt, die meisten der Schwimmstege liegen an Land. Der Hintergrund ist Umständen geschuldet, die wir im heimischen Mitteleuropa nicht unmittelbar erleben, denen man hier auf den Kanaren derzeit jedoch schnell hautnah begegnen kann. Worum geht es?

Warmes, klares Wasser, Sonne, badende Menschen, Tauchschüler und viel Ruhe. Wir hatten einen Ausfliug gemacht, unter anderem weil wir uns für die Tauchmöglichkeiten in La Restinga interessierten. Bitte beachten: Ganz hinten, am Ende der Hafenmole ein unscheinbarer, heller Streifen.

Zwischen den westafrikanischen Staaten Mauretanien, Senegal und Gambia und den Kanarischen Inseln verläuft eine der großen Migrantenrouten. Es gibt auch eine Migrationsroute von Marokko und der Westsahara, die bevorzugt zu den Inseln Lanzarote und Fuerteventura führt, aber um die soll es hier nicht gehen. Beim Blick auf den Globus wird schnell klar, dass die Menschen aus den zuerst genannten Staaten die Kanaren aus südlicher Richtung ansteuern. Und wenn man sich die vorherrschenden Winde und Strömungen vergegenwärtigt wird ebenso schnell nachvollziehbar, dass das kleine El Hierro die Kanareninsel ist, auf der die meisten Flüchtlingsboote ankommen bzw. eingeschleppt werden. Vor einigen Wochen, als wir auf dem Weg von La Palma nach La Gomera waren, hörten wir im Funk eine Dringlichkeitsmeldung, in der die Schifffahrt auf ein Boot mit einer unbekannten Anzahl Menschen an Bord hingewiesen wurde. Die wurde einmal wiederholt, danach hörten wir nichts mehr. Am 24.03. auf der Passage von La Gomera nach Gran Canaria gab es erneut einen PAN PAN-Ruf. Südlich von Gran Canaria / Fuerteventura war ein hölzernes Boot gesichtet worden, ebenfalls mit einer unbekannten Anzahl Menschen an Bord. In beiden Fällen handelte es sich – auch wenn das Wort nicht fiel – um Flüchtlingsboote.

Da El Hierro die annähernd südlichste und für die Migranten auf dem Seeweg von den südlichen Staaten scheinbar auch am einfachsten zu erreichende Kanareninsel ist, vor allem jedoch die westlichste, denn jenseits dieser Insel haben die Boote keine Chance mehr, noch irgendeinen „sicheren Hafen“ zu erreichen, hat sich La Restinga zu einem Hotspot entwickelt. Nach einem Podcast des Bayrischen Rundfunks vom 18.02.2024 wurden im letzten Jahr 154 Flüchtlingsboote in den kleinen Hafen eingeschleppt, und im Januar 2024 annähernd 50 Boote. Auf der Mole hat die Inselverwaltung gemeinsam mit dem spanischen Roten Kreuz eine Erstaufnahmestation eingerichtet. Dort gibt es eine medizinische Untersuchung und bei Bedarf auch Erstversorgung und natürlich auch all die erforderlichen Grenzübergangsformalitäten, die für die Afrikaner sicher eine besondere Herausforderung darstellen.

Erstaufnahmestation des Roten Kreuz und der spanischen Behörden
Im Zelt des Cruz Roja, des Roten Kreuzes: Ausrüstungsboxen, Tische, Folienkabinen
Die Aufnahme der Migranten wird inzwischen auch auf europäischer Ebene koordiniert und unterstützt. Die Kämpfe um das Wie und wie groß eine Unterstützung sein könnte ließen sich ja in den Medien halbwegs verfolgen.

Die Teneriffa-News berichteten am 01.02.2024, dass 7.017 Migranten in den ersten (vier) Wochen des Jahres 2024 die Kanarischen Inseln erreicht hätten. So viele Menschen, wie im Vorjahr zwischen Januar und Ende Juni. Die Dramatik der Entwicklung zeigt auch der Vergleich mit dem Jahr 2022, in dem auf den Kanaren insgesamt 3.194 Flüchtlinge ankamen. Seit September 2023 ist die Zahl der aus Afrika flüchtenden Menschen stark angestiegen. Im Februar 2024 ging die Zahl der erfolgreich auf den Kanaren eintreffenden Menschen auf 4.738 zurück, vermutlich dem schlechten Wetter auf der Route geschuldet. , Für El Hierro hieß das, dass in diesem Januar 4.034 Flüchtlinge ankamen. Zum Vergleich: Januar 2023 kamen nur 9 Migranten auf der Insel an. Um die Dimensionen zu verdeutlichen, die dies für die Inselbevölkerung hat: Auf El Hierro leben etwas über 11.000 Menschen.

Etwa 85 Prozent der aktuellen ankommenden Migranten sind nach den Teneriffa-News in Mauretanien gestartet. Nouadhibou ist der nördlichste Küstenort Mauretaniens. Von dort aus beträgt der Weg nach El Hierro etwa 750 Kilometer. Die Menschen, die weiter südlich starten, womöglich im Senegal und in Gambia, haben eine weitaus längere Distanz zu überwinden, und das wie bereits gesagt gegen die vorherrschenden Winde und Strömungen.

Schematische Darstellung der zur Zeit wichtigsten Migrationsrouten vom westlichen Afrika nach El Hierro. Entfernungsangaben in der Karte in Seemeilen. Anders ausgedrückt betragen die Entfernungen etwa 760, 1.320 bzw. 1.630 Kilometer. Das sind Distanzen über die offene See, es gibt keine Stopps. Die Kurse verlaufen entgegen der vorherrschenden Winde und der Strömungen. (Kartengrundlage: OpenStreetMap. Unentgeltliche Weiternutzung der modifizierten Karte ausdrücklich gestattet. Anders als für alle anderen Blogbeiträge sind alle Bilder dieses Beitrags mit der Auflage die Bilautoren zu nennen zur unentgeltlichen Nutzung frei gegeben.)

Folglich überrascht nicht, dass auf der Migrationsroute zwischen Afrika und den Kanarischen Inseln sehr viele Todesopfer zu beklagen sind. Eine wirklich erschütternde Tatsache. Mit Verweis auf die Menschenrechtsorganisation Caminando Fronteras berichten die Teneriffa-News, dass im vergangenen Jahr, also in 2023, auf dieser Route 6.007 Todesopfer zu beklagen waren. Der Bayerische Rundfunk benennt mit Bezug auf die gleiche Quelle 5.400 Todesopfer. Um die Dramatik zu veranschaulichen: 2022 kamen „nur“ 1.784 Menschen ums Leben. Man kann sich die Dramatik auch anders klar machen: Pro Tag sind im vergangenen Jahr je nach zugrundeliegender Zahl 16 bzw. 15 Menschen bei dem Versuch der Überfahrt zu den Kanaren umgekommen! Deutlich andere Zahlen benennt die IOM (International Organization for Migration), eine UN-Organisation. Nach deren Zahlen sind auf der sogenannten Atlantik-Route, also dem Seeweg, von dem wir hier sprechen, rund 1.000 Menschen umgekommen sind. Wobei auch die IOM davon ausgeht, dass die tatsächliche Zahl größer ist. Diese Unterschiede lassen sich damit erklären, dass letztlich alle Zahlen auf Schätzungen beruhen.

Noch eine Relation: Den auf der Route Verstorbenen stehen etwa 40.000 Menschen gegenüber, die im vergangenen Jahr die Kanaren erreicht haben, davon die Hälfte auf El Hierro (Quelle: NZZ vom 02.04.2024, vgl. link gegen Ende des Beitrags)

In der Nacht zum 06.03.2024, also vor nicht ganz 4 Wochen, wurde nahe von El Hierro ein Boot mit 68 Menschen entdeckt, darunter vier Tote. Die anderen befanden sich in einem schlechten Gesundheitszustand. Zwei Personen wurden daher per Helikopter nach Teneriffa gebracht, 14 der Ankömmlinge wurden mit Unterkühlung, Dehydrierung usw. in lokale Krankenhäuser gebracht, 21 Menschen am Ankunftsort versorgt. (Quelle: Teneriffa-heute.info vom 06.03.2024)

Erstaunlich finden wir, dass sich nur schwer belastbare, offizielle Quellen zu den Flüchtlingszahlen finden ließen. Die Medien berufen sich meist nur auf ein, zwei einzelne Quellen und greifen gegenseitig aufeinander zurück. Und meistens werfen sie ein Schlaglicht auf einen konkreten Moment, und danach gibt es nichts mehr, oder die Berichterstattung fokussiert sich in der Folge auf politische Aspekte. Dazu war alles, was wir finden konnten, schlicht nicht vergleichbar. Die geographischen Bezüge waren verschieden, die betrachteten Zeiträume ebenso. Klar, in gewisser Weise kann man sagen, das sind alles nur Zahlen. Und man kann dazu natürlich eine ganz persönliche Meinung haben, auch in verschiedenster Hinsicht begründet. Wir können uns da gar nicht ausnehmen, denn wir sind Teil unserer Welt mit all ihren Widersprüchen, Schwächen, Fehlern und Unzulänglichkeiten.

Anders sieht es jedoch stets aus, wenn man plötzlich und unerwartet eine persönliche Erfahrung macht. In der Marina kommen wir mit einer jungen französischen Seglerin und Mutter ins Gespräch, wir nennen sie mal Claire. Sie schildert, dass sie, also ihre Familie, also Vater, Mutter und Kinder auf der Überfahrt zu den Kanaren einem Flüchtlingsboot begegnet ist. Man merkt, dass diese Begegnung sie erschüttert hat. Sie hat nicht Zahlen vor Augen, sie hat die Menschen in einem Flüchtlingsboot gesehen. Viele Menschen in einem kleinen Boot und nichts als Wasser ringsherum. Jeder Mensch mit Hunger, jeder mit Durst. Jeder Mensch ein persönliches Schicksal. Jeder Mensch mit seinem Wert als Mensch an sich, mit seinen Träumen, Hoffnungen, Ängsten und Befürchtungen, mit seinem Wesen. Diese hautnahe Begegnung hat sie erkennbar betroffen, und sie ist auf ihre Weise eine vehemente Fürsprecherin für jeden einzelnen dieser Afrikaner geworden.

Eine andere Stimme, ein Augenzeuge des Einschleppens eines Cayuco berichtet, dass in dem von ihm bei der Ankunft beobachteten Boot weitgehend junge Männer gewesen seien, mit Markenklamotten, und jeder habe ein Handy besessen. Wir stellen diese Aspekte einfach unkommentiert nebeneinander, da wir an dieser Stelle nicht werten wollen.

Ich weiß nicht, ob es richtig ist, in diesem Zusammenhang das Wort ‚glücklicherweise‘ zu benutzen. Man kann darüber streiten. Uns jedenfalls ist eine solche ganz unmittelbare Begegnung erspart geblieben. Auch wenn wir bereits im Mittelmeer südlich von Mallorca und an der spanischen Mittelmeerküste mehrere Male Dringlichkeitsmeldungen wegen Flüchtlingsbooten im UKW-Funk aufgenommen hatten. Und um ehrlich zu sein, wir hatten uns innerlich darauf eingestellt, in La Restinga auf Flüchtlinge zu stoßen, oder ihre Spuren. Wir hatten gehört, dass es hinter einer Mauer verborgen die Wracks zahlloser Cayucos geben solle. Eine Anhäufung der Flüchtlingsboote, die auf ihre Verschrottung warten würden. Aber wir fanden dort nichts dergleichen. Diese Mauer gab es nicht, und Flüchtlingsboote auch nicht, wohl aber die beschriebene Erstaufnahmeeinrichtung. Ansonsten gab es ein paar Bars und Restaurants, nett gestaltete Anlagen und Ministrände am Hafen, etwas Tourismus. Überraschenderweise – für uns jedenfalls – sind wir auf El Hierro und auch andernorts nur in beschränktem Maß Afrikanern begegnet. Am späten Nachmittag konnte man in Valverde, der Hauptstadt El Hierros, ein paar schwarzen Jugendlichen auf Spielplätzen oder in Parks begegnen, die waren es dann aber auch. Hintergrund ist, dass die Ankömmlinge innerhalb von 24 Stunden nach Teneriffa und Gran Canaria gebracht werden, und von dort zum Teil weiter auf das Festland. Nur Minderjährige bleiben meist länger auf El Hierro.

Später haben wir festgestellt, dass es diese vielen Cayucos in La Restinga sehr wohl gegeben hat, im Hafen dümpelnd. Nach langem Hin und Her hatten sich die Verantwortlichen auf Lösungen verständigen können. Die Boote waren abtransportiert und von einer privaten Firma entsorgt worden.

Den Spuren dieser Dramen waren wir allerdings viel näher. Sie fanden sich in unserer unmittelbaren Umgebung: in Estaca. Dort dümpelten direkt hinter unserem Heck zwei Cayucos. Natürlich waren wir neugierig und warfen einen Blick hinein. 

Das größere der beiden Cayucos, die in Estaca hinter unserem Heck lagen. Man will sich nicht wirklich vorstellen, wieviele Menschen in diesem Boot die Überfahrt gewagt haben.
Innenansicht. Müll, Wasserflaschen, ein Gummistiefel. Sah das Innere während der Überfahrt so aus, wie es sich jetzt darstellt? Kein Deck. Bis auf die sichtbaren Balken keine Möglichkeit, zu sitzen. So gut wie kein vernünftiger Boden, um zu stehen. Die Menschen müssen ständig gegeneinander gerutscht sein oder sich gegeneinander gelehnt haben. Kein Ansatz irgendeiner Toilette. Woher kam dieses Boot? Wieviel Tage war das Boot wohl unterwegs?
Weiter hinten im Boot: ein Kinderstiefel, eine Feststoffweste, mehr Müll. Hier kann man wenigstens einige Balken sehen, auf denen man vielleicht sitzen konnte. Von Menschen in La Restinga wird berichtet, dass die Boote furchtbar nach Urin und Fäkalien gestunken haben.
Trotz aller Primitivität kann man den Booten eine gewisse Seefähigkeit nicht absprechen. Die Steven generieren am Bug einen erheblichen Reserveauftrieb (vgl. Titelfoto), Der häufig vorhandene „Hecksporn“ teilt von achtern anrollende Wellen. Jedoch sind die Boote nicht für solch lange Fahrten mit so vielen Menschen gedacht. Es sind Fischerboote. Wieviel Benzin für welche Reichweite wurde mitgeführt? Hatte man auf diesem Boot tatsächlich zwei Außenborder, gewissermaßen eine Redundanz? Wieviel Wasser war an Bord? Wieviel Nahrungsmittel? Wie wurden navigiert? Einem Bericht nach werden GPS-Kompasse benutzt. Noch zwei Anmerkungen: Die Pinne des Ruders ist um 180 Grad verdreht. Sie muss eigentlich in Fahrtrichtung, also nach vorne zeigen. Und an der geringfügig verzierten Gestaltung der Baustahlelemente lässt sich erahnen, dass das Boot ursprünglich einem anderen Zweck, dem Fischfang diente.

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Für diejenigen, die das Thema besonders interessiert, hätten wir gerne ein paar Links eingestellt, die auf Daten offizieller Stellen zugreifen, das UNHCR/ACNUR, das zuständige Ministerio del Interior, die Regional- bzw. Inselverwaltung Cabildo de El Hierro oder das Cruz Roja, das spanische Rote Kreuz, doch wir konnten auf deren offiziellen Seiten keine zugänglichen Daten oder Statistiken finden.

Die einzigen Quelle, bei der wir regelmäßig fortgeschriebene Angaben finden konnten, haben wir oben bereits genannt, und daher verlinken wir hier
auf die Seite der NGO Caminando Fronteras sowie
deren Unterseite mit deren regelmäßig fortgeschriebenen Daten und zudem die
die NZZ, die zu diesem Thema einen weiten Überblick zusammengestellt hat.

Mit Stoff zum Nachdenken, zumal gerade Ostern hinter uns liegt, grüßen Euch

Martin und Anke

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