
Auf Odysseus´ Spuren
Mit Erreichen von Bonifacio schließt sich ein kleiner Kreis, der ursprünglich gar nicht geplant war. Dazu müssen wir etwas ausholen. Noch in Studentenzeiten erwarb ich, Martin, für 3 Mark ein Büchlein aus einer Grabbelkiste. Ernle Bradford: „Reisen mit Homer“ mit dem Untertitel „Die wiedergefundenen Inseln, Küsten und Meere der Odyssee“. Das Büchlein hatten wir längst vergessen, doch als wir uns für die Reise mit Mago rüsteten und den Großteil unserer Bücherbestände einlagerten, fiel es uns wieder in die Hände. Statt es wegzupacken kam es in die bescheidene Bordbibliothek. Und nachdem wir uns für den Mittelmeer-Abstecher entschieden und Sizilien erreicht hatten, begann ich darin zu lesen. Inzwischen hat sich gezeigt, dass wir einer ganzen Reihe der denkbaren Stätten der Odyssee begegnet sind, mal dichter, mal weniger dicht. Und mit Bonifacio schließt sich fürs erste der Kreis dieser Stätten; denn weitere Orte der Odyssee werden wir auf absehbare Zeit nicht antreffen können. Interessanterweise kann ich allerdings anfügen, dass uns Odysseus auch an anderen Orten des Mittelmeeres begegnet, so beispielsweise im Museum des Fort Royal, des Königlichen Forts auf der Île Sainte Marguerite, in deren Muringbojenfeld wir ein paar Tage verbracht haben. Die Begegnungen mit den Orten der Odyssee verlief bei uns naturgemäß in ganz anderer Reihenfolge als die Odyssee, denn sie waren ursprünglich gar nicht geplant.
Noch eine Bemerkung: Natürlich ist es erstaunlich – und man kann sicher darüber diskutieren – dass es in unserer Zeit möglich sein sollte, die Orte der Odyssee zu bestimmen. Doch der gute Ernle (er heißt wirklich so, und nicht etwa Ernie) ist bzw. war unter anderem versierter Historiker, der seine Studien in besonderem Maß antiken Mittelmeerreisen gewidmet und darüber einige Publikationen verfasst hat. Man darf ihn also durchaus ernst nehmen. Auch Schliemann hat, zunächst verlacht, Troja entdeckt. Die folgenden Zuordnungen der Geschehnisse und der Orte orientieren sich daher durchweg an Ernles Erkenntnissen und Befunden, auch weil wir hier keine großartige wissenschaftliche Ausarbeitung machen wollen. Das Beitragstitelbild zeigt eine Reproduktion aus dem Museum im Fort Royal, Île Sainte Marguerite. Es soll Odysseus auf dem Weg zu den Sirenen zeigen. Was eigentlich nicht ganz stimmen kann, denn zu diesem Zeitpunkt war die Flotte bereits auf ein Boot geschrumpft. Das Original wird in der französischen Nationalbibliothek aufbewahrt.
Irrungen und Wirrungen – die Odyssee
Troja lag nach zehnjähriger Belagerung dank der List mit dem trojanischen Pferd in Schutt und Asche und die siegreichen Griechen zog es zurück an die heimischen Gestade, zurück zu ihren Familien. Nicht anders Odysseus mit seiner kleinen Streitmacht. Ernle geht von Bootsbesatzungen von geschätzt 40 Mann pro Schiff aus. Das bedeutet, Odysseus, der über eine Flotte von 12 Schiffen verfügte, befehligte bei Verlassen von Troja eine Streitmacht von etwa 480 Mann.
Im ersten Jahr der Reise – dass es eine Irrfahrt werden würde, die nur Odysseus überleben sollte, wusste keiner der Teilnehmer – machte man nach dem Start von Tenedos bei Troja wegen passender Winde noch einen kleinen Abstecher gen Norden nach Ismaros. Es dürfte Frühjahr geherrscht haben. Die Stadt der zuvor mit Troja verbündeten Kikonen wurde überfallen, geplündert, männliche Einwohner umgebracht, die Frauen brüderlich geteilt, und – da vorhanden – auch reichlich dem Wein zugesprochen. Nicht mehr ganz Herr ihrer Sinne vernachlässigte man, sich zu sichern mit der Folge, dass von den Städtern zu Hilfe gerufene Kräfte einen erfolgreichen Gegenangriff führten. Ergebnis nach Ernle: durchschnittlich 6 Mann Verlust pro Boot, in der Summe also 72 Mann. Erstaunlicherweise gelingt es den Helden trotz ihres scheinbar alkoholbenebelten Zustands, verblüffend große Vorräte ismarischen Weins mitzunehmen, dem noch während der gesamten Odyssee bis zur Begegnung mit den heiligen Rindern des Helios eifrig zugesprochen wird. Wobei man erwähnen muss, dass Wein zu jenen Zeiten nur wenig mit dem heutigen Getränk zu tun hat, außer dem Ursprung, der Weintraube. Man muss sich den Wein als dickflüssigen Sirup vorstellen, der erst nach ausreichender Verdünnung mit Wasser trinkbar war.

Bei dem Versuch um Kap Malea herum Richtung Heimatinsel Ithaka voranzukommen, der Peleponnes musste seinerzeit ja noch in zäher Segelei oder Ruderarbeit umrundet werden, wurde die Flotte von einem Sturm gen Westen abgetrieben und erreicht nach 9 Tagen und Nächten Djerba, das Land der Lotophagen, der Lotosesser. Ernle kalkuliert eine durchschnittliche Fahrtleistung von 3 Knoten, was einer Strecke von 650 Seemeilen entspricht und Djerba plausibel erscheinen lässt. Was die Lotosesser wirklich gegessen haben, ist Gegenstand vieler Spekulationen und im Übrigen ohne Belang. Jedenfalls handelte es sich nicht um den Lotos, den wir heute als solchen bezeichnen.

Von Djerba aus legt die Flotte nonstop etwa 280 Seemeilen zurück und landet bei nächtlicher Dunkelheit nach Ernle mit mehr Glück als Verstand auf dem Strand der Cala Grande auf der heutigen Insel Favignana nur wenige Meilen westlich von Trapani auf Sizilien, der Ziegeninsel. Angelockt von den Feuern, die Odysseus und seine Männer an der nahen Küste Siziliens sahen, beschließt Odysseus eine schnelle Expedition mit einem Boot und einer handverlesenen Schar dorthin, zum Land der Zyklopen. Er landet irgendwo in der Gegend des heutigen Trapani und begegnet Polyphem als markantem Vertreter der Zyklopen. Der ist offensichtlich recht kräftig, groß, unzivilisiert und hat auch weitere unangenehme Eigenschaften. So verspeist er – wie häufig in der Menschheitsgeschichte – Artgenossen, also in unserer Geschichte sechs Begleiter des Odysseus (wenn man mal davon ausgeht, dass man Zyklopen auch als Menschen ansieht). Dem Rest der kleinen Schar gelingt immerhin die Flucht und Odysseus und seinen Kameraden mit einer List das Blenden des einäugigen Polyphem. Wobei hier zwei kritische Anmerkungen zu machen sind: Es war zum Einen schon immer ein beliebtes Motiv, als unzivilisiert angesehene Völker zu Menschenfressern zu stilisieren oder als Menschen opfernde Kulturen, ohne dass dies oft der Wirklichkeit entsprach, und zum Anderen bemerkt Homer nichts bezüglich nur eines Auges bei Polyphem. Die Einäugigkeit scheint eine spätere Ergänzung oder Ausmalung zu sein. Der Haken bei der Geschichte: Polyphem ist ein Sohn des Poseidon und bittet diesen in seinem Zorn und Schmerz, an Odysseus Rache zu nehmen.


Zurückgekehrt zu seiner Flotte in der damals natürlich noch namenlosen Cala Grande geht es nonstop nach Ustica, der Insel der Winde und dem Wohnort des Gottes der Winde, Äolus. Hier verbringt Odysseus mit seiner Truppe rund einen Monat, man lässt es sich gut gehen und genießt den inzwischen sicherlich herrschenden Sommer. Mehr ist nicht zu sagen, außer, dass Äolus den Griechen gute Winde schenkt und einen Lederschlauch, den niemand öffnen darf. In diesem ist nicht etwa, wie durchaus üblich, Wasser oder Wein enthalten, sondern er beherbergt widrige Winde. Nun gut. Die geschenkten günstigen Winde treiben Odysseus und seine Mannen von Ustica zunächst mit nördlichen Winden auf Südkurs an Favignana, der Ziegeninsel vorbei und dann mit westlichem Wind an die heimischen, ionischen Gestade. Neun Tage und Nächte waren sie unterwegs, bis sie am 10. Tag heimische Ufer sichteten. Nach Ernle passt das. Rund 600 Seemeilen in etwas mehr als 200 Stunden. Odysseus, der die ganze Zeit gewacht hat, fällt in tiefen Schlaf. Seine Gefährten, diese Deppen, öffnen den Schlauch und schwupps haben die enthaltenen widrigen Winde sie erneut nach Ustica verfrachtet. Typischer Fall von dumm gelaufen.

Diesmal gibt es von Äolus keine so freundliche Hilfe. Einmal ist genug. Die Männer müssen selber sehen, wie sie klar kommen und offensichtlich kann von klar kommen keine Rede sein. Ziemlich orientierungslos rudern sie von Ustica aus annähernd sieben Tage und Nächte und erreichen nach Ernle schließlich Bonifacio im Land der Lästrygonen, von Homer Telepylos genannt. Das bedeutet bei einer durchschnittlichen Rudergeschwindigkeit von 1,5 kn eine zurückgelegte Strecke von ca. 250 Seemeilen. Bei den Lästrygonen scheint es sich um eine noch steinzeitliche Kultur gehandelt zu haben, während die Griechen zu dieser Zeit bereits der Bronzezeit angehörten. Wie auch immer. (Natürlich handelt es sich auch bei diesen um Menschenfresser und Riesen.) Sicher begünstigt durch die topographischen Gegebenheiten in der Bucht von Bonifacio versenken diese Steinzeitler, wahrhaft wüste Steineschmeißer und Steinewälzer, 11 Schiffe der Flotte. Nur Odysseus Schiff und Mannschaft, er war aus unerfindlichen Gründen nicht in die Bucht eingefahren, überleben. Vielleicht war es ja nur Vorsicht des Odysseus, aber im Grunde ist das unlogisch, denn ein vorsichtiger Flottenchef würde ja die gesamte Flotte mit Vorsicht einlaufen lassen. So richtig versteht man das Desaster auch mit Blick auf die Örtlichkeiten nicht. Vielleicht will die Überlieferung ausdrücken, dass Odysseus in der ersten kleinen Seitenbucht verblieben war, während das Gros der Flotte tiefer in den Fjord eindrang. Jedenfalls belaufen sich die Verluste auf 11 Boote mit Besatzungen, also rund 330 Mann.


Von Bonifacio aus erreicht Odysseus, mittlerweile dürfte sich der Herbst eingestellt haben, in einer weiteren Nonstop-Fahrt Aiaia, die „Insel“ der Circe, das Kap Circeo. Hier lässt er sich nicht becircen und in ein Schwein oder anderes Getier verzaubern, sondern erlangt durch einen Gegenzauber geschützt nach Androhung von Gewalt die Gunst der Priesterin und Herrin der wilden Tiere. Seine zwischenzeitlich verschweinten Gefährten werden wieder menschlich und es gibt nur einen Verlust, als der Gefährte Elpenor aufgrund von Nachwirkungen unmäßigen Alkoholkonsums von einem Dach stürzt, auf dem er geschlafen hat. Trotzdem scheint es ein angenehmer Aufenthalt und so vergeht der Jahreswechsel und der Frühling des zweiten Jahres.


Mittlerweile vollends orientierungslos muss Odysseus sich irgendwie Auskunft verschaffen, und die gibt es bei den Säulen des Herakles, deren Ort reichlich unbestimmt ist. Allgemein ordnet man sie dem Fels von Gibraltar und dem Dschebel Musa (oder Masud) auf der afrikanischen Seite zu. Hierzu ist wenig zu sagen und wenig zu vermuten. Es geht hin, es geht zurück. Vor Ort trifft er auf die Geister der Toten, muss allerdings nicht zu ihnen herabsteigen, wie andere vor und nach ihm. Die Geister der Toten besuchen ihn. Nach ein wenig Palaver weiß Odysseus offensichtlich weiter und gelangt von dort schließlich wieder zurück zu Circes Insel.


Diese beschreibt ihm nun die Möglichkeiten der Rückkehr. Westlich um Sizilien herum wie gehabt, oder kürzer, aber weitaus gefährlicher, durch die Straße von Messina. Odysseus entscheidet sich für die letztere, möglicherweise auch, da sie ihm die Chance bietet, den sagenhaften Sirenen zu begegnen. An Procida und Capri vorbei steuert er die Galli-Inseln im Golf von Salerno an. Von Circe fachkundig instruiert überlebt er deren betörende Gesänge und segelt und rudert mit seinen verbliebenen Mannen den Stromboli und Strombolicchio als Wegweiser nutzend die Straße von Messina an. Hier hat er die Wahl zwischen Pest und Cholera bzw. Skylla und Charybdis. Er entscheidet sich, nahe des Ostufers zu fahren und die Begegnung mit Skylla zu riskieren. Ergebnis: 6 Mann Verlust, verspeist von Skylla.







Erschöpft erreichen die Überlebenden im Herbst des zweiten Jahres eine Bucht auf der Insel Thrinakia, die Ernle als die Bucht bei Taormina verortet, wo sie auf die grasenden heiligen Rinder des Helios stoßen. Interessant übrigens, dass keinem der Seefahrer und offensichtlich auch Homer bewusst war, dass es sich beim angelaufenen Gestade um die gleiche Insel handelt, das auch das Land der Zyklopen war. Hier werden sie durch widrige Winde festgehalten. Dummerweise verhält sich die Mannschaft auch hier ähnlich unüberlegt wie schon seinerzeit beim Öffnen der Schläuche des Äolus und verspeist die hier grasenden Rinder des Helios – Motto: „Sterben müssen wir eh, dann wenigstens mit vollem Magen“ – was der Sonnengott gar nicht lustig findet. Er bewirkt folglich auf der nächsten Etappe bzw. dem Versuch einer Etappe einen Schiffbruch durch Sturm. Nur Odysseus kann, sich an Wrackresten haltend, zunächst die Gefahr der Charybdis überstehen und treibt schließlich innerhalb von 9 Tagen mit Wrackresten runde 150 Seemeilen (mittlere Driftgeschwindigkeit 0,75 kn) von der Straße von Messina zur Insel Ogygia – nach Malta oder auch Gozo. Hier trifft er auf Kalypso, die ihn 7 Jahre festhalten wird. Durch hilfreiches göttliches Eingreifen muss Kalypso ihn jedoch loslassen und unterstützen. So tritt er die finale Heimreise auf einem selbst gebauten Floß an, was ihm in 17 Tagen gelingt. Auch die aber nicht ohne ernsthafteste Probleme aufgrund anhaltender göttlicher Missgunst: Poseidon entdeckt ihn und versucht ihn endgültig zu vernichten. Doch es gibt auch halbwegs göttliche Hilfe: die Nymphe Ino Leukothea unterstützt ihn und lässt ihn bei Nausicaa, der Tochter von König Alkinoos anlanden. Letzterer wird zum Unterstützer und lässt Odysseus von einem eigenen Schiff nach Ithaka bringen. Für die Schiffsmannschaft war das jedoch ein sehr unschöner Einsatz, da der immer noch rachsüchtige Poseidon sie wegen ihrer Hilfe für Odysseus versteinert hat. Wie wir dank Homer wissen, Odysseus hat es schließlich geschafft und Ithaka erreicht. Der Rest der Geschichte spielt hier keine Rolle.

Das Schiff des Odysseus
Natürlich kann heute niemand exakt sagen, wie die Schiffe des Odysseus und seiner Gefährten aussahen. Aber gewisse Anhaltspunkte, die eine Rekonstruktion, eine Annäherung an die damalige Wirklichkeit erlauben, gibt es doch. Es hat allerdings erstaunlich lange gedauert, bis wir da etwas zusammentragen konnten, wenn man mal von Wikipedia absieht. Hier ein paar Ergebnisse:



Allgemein kann man sagen, dass es sich um offene, nur vorne und hinten gedeckte Boote handelte. Im Gegensatz zu den bauchigen und hochbordigen Handelsschiffen waren die Kriegsschiffe seinerzeit flacher und schlanker gebaut und damit auch ranker. Sie besaßen geringen Tiefgang und konnten nachts oder bei schlechtem Wetter auf einen Strand geschleppt werden. Für Hochseefahrten waren sie nicht geeignet. Ernle und andere gehen davon aus, dass das Boot von Odysseus 10 Riemen auf jeder Seite besaß, also 20 Ruderer zum Einsatz kamen. Auf der antiken Vase, die die Grundlage für das Titelbild des oben genannten dtv-Bändchens ist – Begegnung mit den Sirenen – sind interessanterweise nur 6 Riemen und ein ungenutztes Riemenloch dargestellt, was auf lediglich 14 Riemen hindeutet.
Die Schiffe besaßen einen wegnehmbaren Mast, der bei günstigen achterlichen und raumen Winden bei Transitreisen genutzt wurde und an Land sicher auch als Firstbalken für ein Schutzzelt (Segel) für die Männer diente. Weiterhin waren die Schiffe sicher geteert, also schwarz, möglicherweise oberhalb der Wasserlinie blau gemalt. Die Fahrtleistung lag nach Ernle bei rund 3 Knoten gesegelt und bei langen Strecken 1,5 Knoten gerudert. Ein Rudern gegen den Wind war aufgrund der seinerzeit sehr großen Blätter an den Riemen praktisch unmöglich. Als Steuerruder wurden ein oder zwei achtern angebrachte Seitenruder verwendet. Aus unserer Sicht die netteste Rekonstruktion stammt von Norbert W. Hinterberger, entstanden im Rahmen eines Projektes des Neuen Museums Weimar „Der Gesang der Sirenen“ (29.04. bis 10.06.2012.) Dessen Beitrag legen wir den Freunden dieses Blogs ausdrücklich ans Herz. Wirklich lesens- bzw. wahrnehmenswert:
Hier der Link: http://www.norbertwhinterberger.de/Bilder/Kataloge/Odyssee-5,4MB_2012-04-12.pdf


Es grüßen Euch aus dem sommerlich warmen, nachts freundlicherweise schon abkühlenden Hyères an der französischen Cote d´Azure
Martin und Anke